FOTO: © José Verhaegh

silent green 1

Das sagt der/die Veranstalter:in:
Eröffnet wird dieser Abend im silent green mit der Uraufführung von Mazen Kerbajs neuer Arbeit „Lungless“, welche die schmerzvollen Kindheitserinnerungen des Komponisten an den Libanesischen Bürgerkrieg klanglich verarbeitet. Darauf folgt ein Soloprogramm von Bariton Ty Bouque sowie ein Konzert des von Marco Blaauw initiierten Forschungsprojekts Global Breath mit Kompositionen von Ayanna Witter-Johnson, Elena Rykova, George Lewis und Aaron Holloway-Nahum.

Mazen Kerbaj

With a Little Help From My Friends I: Lungless

Mitte der 1990er-Jahre studierte ich an der libanesischen Akademie der Schönen Künste Illustration und Grafikdesign und veröffentlichte nebenbei Comics in regionalen Magazinen. In dieser Zeit schenkte mir mein Freund, der Gitarrist Sharif Sehnaoui, eine Trompete, für die er keine Verwendung hatte. Obwohl ich keine Erfahrung mit dem Spielen eines Instruments hatte, entwickelte ich bald einen ausgesprochen persönlichen Zugang zur Trompete. Ich kreierte meine eigenen Techniken, erfand bisweilen neue Spielweisen und benutzte manchmal sogar Alltagsgegenstände, um das Instrument zu präparieren und umzugestalten, wodurch sich sowohl seine Form als auch sein Klang radikal veränderten.

Drei Jahrzehnte später, nach einer einjährigen Auszeit im Jahr 2024, lege ich die Trompete beiseite und setze mich mit zwei neuen Instrumenten auseinander, die beide von engen Freunden erfunden wurden: dem verstorbenen Musiker und Instrumentenbauer Michel Waisvisz und dem Klangkünstler Tarek Atoui. Meine Forschungen resultierten in zwei neuen Solowerken, „From One War to Another“ und „Lungless“. Obwohl sich die Kompositionen in ihrer Form radikal voneinander unterscheiden, versuche ich in beiden Werken, das Trauma der zahlreichen Kriege heraufzubeschwören, die ich von meiner Kindheit in Beirut bis zu meinen heutigen Tagen in Berlin durchlebt habe – zwei Städte, die einst von Teilung und Konflikten erschüttert wurden.

Für sein Projekt „Reverse Collection“ lud der libanesische Klangkünstler Tarek Atoui im Jahr 2015 mehrere Improvisationsmusiker*innen aus Berlin und Beirut ein, sich mit der Sammlung alter, folkloristischer und ethnischer Instrumente im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem auseinanderzusetzen. Ich war einer der Gastmusiker*innen und verbrachte zwei Tage damit, meine selbstentwickelten Techniken und Präparationen für die Trompete auf eine Reihe von alten Blasinstrumenten aus verschiedenen Kulturen der Welt anzuwenden. Auf Grundlage der Aufnahmen aus dieser ersten Phase des Projekts schuf Atoui später neue Instrumente, die im Jahr 2018 in der Tate Modern vorgestellt wurden, wo sie von einer weiteren Gruppe von Improvisationsmusiker*innen aus London gespielt wurden.

Im Jahr 2020 lud Atoui wiederum Musiker*innen aus Berlin ein, diese neuen Instrumente bei einer privaten Veranstaltung in der kleinen Stadt Güldenhof in Brandenburg zu spielen. Als Teil des Ensembles wurde ich Zeuge der Resultate eines Prozesses, an dem ich fünf Jahre zuvor beteiligt gewesen war. Besonders angetan war ich von „Les Trompes de Poutine“ („Putins Hörner“), einem Instrument, das Thierry Madiot für Atoui gebaut hatte. Es besteht aus fünf Röhren, die durch Luftventile gesteuert werden und Klänge erzeugen, die denen der von Atoui entworfenen Instrumenten verblüffend ähnlich sind. Im Jahr 2022 verbrachte ich eine Woche in Güldenhof, um die Möglichkeiten des Instruments weiter zu erkunden. Das veranlasste mich dazu, eine modifizierte Version zu entwerfen, die sich in sechs gleichzeitig spielbare präparierte Trompeten transformieren lässt.

Das modifizierte Instrument wurde zwischen 2024 und 2025 gebaut und erhielt den Namen „Putin’s Organ“ („Putinorgel“), eine Anspielung auf einen sowjetischen Mehrfachraketenwerfer, der im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurde und dem die deutschen Truppen den Spitznamen „Stalinorgel“ gaben. Dieser berüchtigte Raketenwerfer wurde vermehrt während des libanesischen Bürgerkriegs zwischen den Jahren 1975 und 1990 eingesetzt. Während dieser fünfzehn Jahre waren Raketen die einzigen Objekte, die die Beirut in zwei durch Barrikaden und Kontrollpunkte getrennte Teile untergliedernde „Grüne Linie“ problemlos überwinden konnten. Ich wurde im ersten Jahr des Bürgerkriegs geboren und wuchs im mehrheitlich christlichen Ost-Beirut auf, während Atoui in West-Beirut aufwuchs. Wir beide hätten uns während unserer Kindheit niemals begegnen können und wurden einander schließlich im Jahr 2007 von Michel Waisvisz in Amsterdam vorgestellt.

„Lungless“ ist eine Komposition, die aus der schmerzhaften Nostalgie für eine Kindheit im Bürgerkrieg entstanden ist. Von meinem freiwilligen Exil in der einst geteilten Stadt Berlin aus, verfolgt vom Gespenst des Krieges, rufe ich Erinnerungen an Ost-Beirut wach, eine andere zerrissene Stadt, in der ich aufgewachsen bin und von deren anderen Hälfte ich oft fantasiert habe. Nach dem Krieg wurde die bis dahin unüberbrückbare kommunikative Kluft zwischen den Bewohner*innen beider Seiten allmählich durch die Erkenntnis überwunden, wie sehr sich ihre Erfahrungsweisen des Konflikts ähnelten, insbesondere im Hinblick auf die geteilten, ihren jeweiligen Alltag prägenden Klanglandschaften. Der Titel „Lungless“ ist sowohl wörtlich zu verstehen (der Ton wird von einem Luftkompressor erzeugt) als auch im übertragenen Sinne (die Unfähigkeit, angesichts der Gewalt des Krieges zu sprechen). Außerdem verleiht er dem Wort „Orgel“ im Namen des Instruments eine tiefere Bedeutung.

– Mazen Kerbaj

Mit 

Mazen Kerbaj – Putin-Orgel

Ty Bouque: Seated at the Throat

Georges Aperghis: Quatorze Jactations

Jaktation (Subst.):

1. Ein Umherwerfen oder Herumschwingen des Körpers; v.a. in der Pathologie (1699–)

2. Prahlerei, Aufschneiderei, protziges Auftreten (1576–)

Vom Lateinischen „jactātiōn-em“, das eine Handlung ausdrückende Substantiv von „jactāre“: werfen, schleudern, diskutieren, prahlen

– Aus dem Oxford English Dictionary

Evan Johnson: A general interrupter to ongoing activity

„A general interrupter to ongoing activity“ ist eine Studie über die Stimme als ein Instrument, das in einzigartiger Weise in der Lage ist, sich selbst zu okkludieren (zu verschließen). Diese Okklusion findet auf mehreren Ebenen statt, darunter die geräuschvolle Blockierung des Luftstroms von Reibelauten und Zischlauten mit der Zunge, welche das grundlegende Klangmaterial des Stücks bilden, und ebenso die Diffusion der Vokale des Textes als Pfeifen und Zischen, das mehr oder weniger zerstörerische Hintergrundfärbungen bildet, sowie die prekären Kompromisse, die durch eine überladene Struktur bedingt werden, die die Überschreibung fast jeder körperlichen Anstrengung durch eine andere herbeiführt. Das Ergebnis ist eine Aushandlung der Grenze zwischen dem Hörbaren und dem Unhörbaren, zwischen dem öffentlich Kommunizierbaren und dem zwischenmenschlich Vertraulichen, zwischen dem Stimmlichen und dem Muskulären. 

Bei dem Text handelt es sich um eine anonyme mittelenglische Versifikation einer Passage aus den „Bekenntnissen“ von Augustinus. Er ist sowohl als evokative Inschrift als auch als Quelle für okklusive Möglichkeiten und sich wiederholende Strukturen gedacht:

Im Augenblick, ja gleich, warte nur ein wenig!

Aber dieser Augenblick hatte kein Ende,

und dies „Warte ein wenig!“ zog ich in die Länge.

– Evan Johnson

Timothy McCormack: Seated at the Throat

song i

Beyond the mouth,

Swelled & heavy,

Ghosts nest in my passage,

Sprawled upon my nodes

This grave is loud.

Dead sex echoes

In the carrier

song ii

my Stowaway, 

our hosts…

I eat and am eaten.

song iii

Unfurl the tongue.

Flare the throat.

My fleshy altar

A seat to offer

You’ll find me,

Sunken,

Hungrier than the ghost

 

– Timothy McCormack

Mit 

Ty Bouque – Stimme

Global Breath 1

Ayanna Witter-Johnson: Songs of the Abeng

„Songs of the Abeng“ nimmt uns mit auf eine Reise und erzählt Geschichten von Triumph und Weisheit, die ein reiches und mächtiges Volk befreit haben. Das Abeng, ein Kuhhorn, diente den Maroons in den Bergen Jamaikas zur Übermittlung verschlüsselter Botschaften, um sich während des transatlantischen Sklavenhandels vor den britischen Kolonialtruppen zu schützen. Die kodierte Sprache wurde als Warn- und Signalmittel sowie als Hauptinstrument im mehrere hundert Jahre andauernden Guerillakrieg eingesetzt. Mit seinen mitreißenden Rhythmen und kraftvollen Melodien erforscht „Songs of the Abeng“ diese Sprache und enthüllt die Geschichten des Abengs ebenso wie die Botschaften, die es heute für uns bereithält.

– Ayanna Witter-Johnson

Elena Rykova: Vicissitudes

„Vicissitudes“ erforscht das Zusammenspiel zwischen den akustischen Eigenschaften der Trompete und der Körperlichkeit des Interpreten. Der Titel, zu Deutsch „Unbeständigkeiten“, spiegelt die sich ständig verändernde Natur der Klanglandschaften des Instruments wider, die durch die labyrinthischen Pfade seiner Ventile und Schläuche geformt werden. Mit einer breiten Palette polyphoner Texturen und filigraner Klangfarben navigiert der Solist durch diesen inneren Irrgarten. Er verwandelt mit präziser Muskelkontrolle und konzentrierter Entschlossenheit die physische Komplexität des Instruments in eine komplizierte Klangarchitektur. Dieses Stück zelebriert nicht nur die Kunstfertigkeit der Doppeltrichter-Trompete, sondern auch Marco Blaauws ansteckende Leidenschaft für ihre grenzenlose Erforschung – eine Leidenschaft, die nach wie vor eine meiner größten Quellen musikalischer Inspiration ist.

– Elena Rykova 

George Lewis: Buzzing

Dieses Stück entstand in einem heiteren Gespräch, das ich mit Marco Blaauw über erweiterte Techniken für Trompete führte. Er erwähnte, dass viele Partituren, die er erhielt, Techniken wie das Klicken der Ventile, das Klopfen auf dem Instrument oder fast unhörbare Luftgeräusche verlangten. „Wie wäre es mit dem guten alten ‚buzzing‘?“, scherzte er. Da ich selbst ein Blechbläser bin, verstand ich das sofort. In unserer allerersten Posaunenstunde in der Schule, damals im Jahr 1960, führten Ray Anderson und ich eine Technik aus, die man heute als erweiterte Technik bezeichnen würde, indem wir Luft durch das Instrument bliesen. Es kam nichts heraus – zumindest nichts, was man mit dem stentorischen Charakter der Posaune in Verbindung bringen würde; der „Posaune Gottes“, nach Hildegard von Bingen. Unser Lehrer, Frank Tirro, kam herein und beobachtete uns mit nicht wenig Belustigung. Dann sagte er: „Um Posaune zu spielen, müsst ihr mit dem Buzzing beginnen.“ Er demonstrierte die Technik, zuerst mit seinen Lippen, dann mit den Lippen am Mundstück an der Posaune. Der Klang war fast ohrenbetäubend. Das war der Beginn eines lebenslangen „buzzens“. „Buzzing“ ist das jüngste Werk in meiner Serie von „rekombinanten“ Werken, die ich 2010 mit „Les Exercices Spirituels“ für Oktett und Live-Elektronik begonnen habe. In diesen Werken werden akustische Klänge durch interaktive digitale Delays, Verräumlichung und Klangfarbentransformation verwandelt. Manchmal klingt die Trompete wie das antike Trompeten-und-Ratschen-Instrument, das ich im Museo Nacional de Antropología in Mexiko-Stadt gesehen habe. Ich habe mir den Klang von Hunderten dieser Instrumente vorgestellt, die von Musikern gespielt werden, die sich über einen Ballspielplatz in Teotihuacan bewegen. Das Wort „Buzzing“ überschreitet die Sprachgrenzen. Marco erzählte mir: „Das Wort ist lautmalerisch und man versteht es im Niederländischen, Deutschen und Englischen und vielleicht auch in anderen Sprachen.“ Obwohl ich Marco versprochen hatte, in diesem Stück hauptsächlich die erstaunlichen Dinge zu verwenden, die entstehen, wenn seine Lippen buzzen, habe ich mir auch ein paar Klopf- und Äolische Klänge gegönnt, die von der Software, die von Damon Holzborn von Rustleworks LLC geschrieben wurde, angemessen verstärkt und transformiert werden.

– George Lewis

Aaron Holloway-Nahum: I Contemplate Snippets of Silence and Find them Few

Ich betrachte Schnipsel der Stille in meinem Leben und finde nur wenige davon; aber ich entdecke, dass mich das eher erfreut als beunruhigt, denn das Chaos und der Trubel in meinem Leben, der größte Teil meines Geräuschmeers, sind meine Kinder, die kleine wieselflinke, rostrote, gereizte, stürmische Säugetiere sind, immer zwischen den Füßen im Unterholz, jaulend und heulend und weinend und zwitschernd und neckend und rufend und stöhnend und lachend und singend und schreiend und spottend und foppend und brummend und schnarchend und keuchend und knurrend und murmelnd, und so sind sie den ganzen lieben langen Tag dabei, magische Musik zu machen.

– Brian Doyle

Mit

Marco Blaauw – Doppelschalltrichter-Trompete

Aaron Holloway-Nahum – Elektronik

Ty Bouque – Bariton

Programm

Mazen Kerbaj

With a Little Help From My Friends I: Lungless

für Putin-Orgel (2025)

Kompositionsauftrag von MaerzMusik

Uraufführung

Ty Bouque: Seated at the Throat

Georges Aperghis

Quatorze Jactations

für Stimme solo (2001)

Evan Johnson

A general interrupter to ongoing activity

für Stimme solo (2011)

Timothy McCormack

Seated at the Throat

für Stimme solo (2024)

gewidmet Ty Bouque

Deutsche Erstaufführung

Global Breath 1

Ayanna Witter-Johnson

Songs of the Abeng

für Trompete und Elektronik (2025)

Kompositionsauftrag von Marco Blaauw, gefördert durch den Musikfonds e.V. und die Kunststiftung NRW

Uraufführung

Elena Rykova

Vicissitudes

für Doppelschalltrichter-Trompete und Elektronik (2023)

Kompositionsauftrag von Marco Blaauw, gefördert durch den Musikfonds e.V. und die Kunststiftung NRW

George Lewis 

Buzzing

für Trompete und Live-Elektronik (2024)

Kompositionsauftrag von Marco Blaauw, gefördert durch den Musikfonds e.V. und die Kunststiftung NRW

Aaron Holloway-Nahum

I Contemplate Snippets of Silence and Find them Few

für Doppelschalltrichter-Trompete, Bariton und Elektronik (2023)

Kompositionsauftrag des SWR

 

Global Breath wird unterstützt durch die Ernst von Siemens Musikstiftung, Musikfonds Neustart Kultur und die Kunststiftung NRW.

Preisinformation:

17.00 - 22.00€

Location

Berliner Festspiele Schaperstraße 24 10179 Berlin

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