Wie eine perfekte Choreografie von Schwalben in der Luft bewegen sich die Performer*innen durch den Raum. Vorwärts, rückwärts, in scharfen Wendungen und geometrischen Formationen teilen und verschmelzen sie, ohne je aus dem Gleichklang zu geraten. Es ist, als ob jede Bewegung von einer unsichtbaren Kraft gesteuert würde – ein Wechselspiel von Harmonie und Spannung.
Seit Jahren schon begleitet den Choreografen Richard Siegal die Faszination für das Shudan Kodo, das japanische Precision Walking, das in Form von viralen YouTube-Videos in den letzten Jahren weltweit Bekanntheit erlangte. Dabei bewegen sich Gruppen von Athlet*innen mit beeindruckender Präzision in synchronisierten Formationen. Shudan Kodo vereint damit eine außergewöhnliche Mischung aus Disziplin, Ästhetik und Kollektivität, die sowohl durch ihre visuelle Kraft als auch durch technische Perfektion besticht. Diese lässt Siegal in Form von 70 Athlet*innen der Nippon Sports University auf zwei seiner Ballet-of-Difference-Tänzer treffen und in die minimalistischen, elektronischen Klanglandschaften von Alva Noto in Zusammenspiel mit dem Lichtdesign von Matthias Singer eintauchen: Eine futuristische Perspektive auf das Spannungsfeld zwischen Kollektiv und Individuum entsteht.
Dabei kann sich der Betrachter dank der Übersetzung dieser geometrischen, pixelartigen Formationen in immersive Bildwelten mit dem Werk von innen heraus vertraut machen. Gleichzeitig fordert es ihn auf, einige seiner grundlegenden Annahmen und Fragestellungen zu überdenken. Denn diese erste internationale, transdisziplinäre Arbeit zu Shudan Kodo, die während des International DANCE Festival München im Kunstbau des Lenbachhauses Premiere feiern wird, markiert für Richard Siegal auch eine Auseinandersetzung mit den technokratischen Tendenzen unserer digital geprägten Wirklichkeit. Und so bilden grundlegende Fragestellungen hierzu die Basis von art.Life: Was können uns Menschenmengen über das digitale Zeitalter, in dem wir leben, verraten? Umgekehrt, was kann uns das Digitale über die Natur von Menschenmengen offenbaren?